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Die Ohrfeige

Vorurteile sind etwas Erquickendes. Man kann sie hegen und pflegen und keiner weiß etwas davon. Bis man eines Besseren belehrt wird!

 

Gibt es etwas Beruhigenderes als strömenden Regen an einem Herbstabend? Vorausgesetzt, man befindet sich hinter den schützenden Mauern der eigenen Wohnung, die Heizung funktioniert und der Tee ist noch heiß. Wenn jetzt noch das Schwachsinn-Niveau des Fernsehprogramms um drei Stufen höher liegt als normal, könnte man von einem gelungenem Abend reden. Die Füße faul nach oben gelegt, den Kopf sanft in ein Kissen gebettet, dazu eine gesunde Müdigkeit in den Gliedern, die auf baldiges und genussvolles Einschlafen hindeutet. Das Leben kann sehr schön sein. Bis die erste Werbepause kommt. Diese Verbrecher wissen genau, dass die Mehrzahl der Zuseher bereits im ersten. wohlverdienten Schlaf liegt. Den es zu unterbrechen gilt.

Dies geschieht auf eine menschenverachtende Weise, indem die Toningenieure die Lautstärke einfach einige Dezibel anheben. So in etwa der Lautstärke einer Lastwagenfanfare entsprechend, aber im Autobahnmodus. Was dazu führt, dass die ganze Republik aufrecht in den Sesseln steht und sich fragt, wieso ein Kranwagen mit einer Abrissbirne vor dem Hause steht. Hat man die richtige Fernbedienung endlich gefunden und die Lautstärke herunter geregelt, könnte man, nachdem die gesamte Werbe-Industrie in allen bekannten Landessprachen verflucht wurde, wieder zum normalen Einschlaf-Alltag zurückkehren. Aber an Schlaf ist jetzt nicht mehr zu denken. 

Ich beginne dann meistens über die Werbeinhalte, bzw. deren Aussagen zu philosophieren. So ist mir aufgefallen, dass man in einigen Fällen nur ein Satzzeichen ändern muss, um diese Aussagen in das Gegenteil zu verkehren. Zum Beispiel: 

„Media-Markt! Ich bin doch nicht blöd!“

Tauscht man das Ausrufezeichen hinter Media-Markt gegen ein Fragezeichen, ergibt sich eine – meines Erachtens – viel lustigere Aussage:

„Media-Markt? Ich bin doch nicht blöd!“

Und schon hat die Firmenleitung ein Problem. Ich hatte auch eines, und das trägt den Namen meiner Frau. Sie liegt immer auf dem längeren Teil unseres Ecksofas. Obwohl sie kleiner ist als ich. Die Begründung liegt darin verborgen, dass ich auch nicht auf das lange Sofa passe, und es demnach egal ist, ob ich wenig oder viel zusammengestaucht darnieder liege. Sie erhob sich in eine halb sitzende Position und schaute mich mit diesem ganz besonderen Lächeln an, dem nicht einmal ein Fleischerhund widerstehen könnte.

"Schatzilein, ich habe keine Zigaretten mehr. Wolltest Du nicht sowieso gehen?“

Nein, ich wollte nicht. Jedenfalls bis eben nicht. Denn ich sorge vorher dafür, dass mein Vorrat an entsprechenden Genussmitteln den Abend überdauert. Aber wie kann man den zärtlich geäußerten Wünschen einer liebreizenden Frau, und sei es die eigene, widerstehen?

Folglich fand ich mich wenige Minuten später, angetan mit einem halbwegs wetterfesten Anorak, jedoch immer noch mit den vorne offenen Schlappen auf der Straße, bzw. in dem Sturzbach, den die Straße jetzt bildete. Nach fünfzehn Metern war ich bereits nass bis auf die Haut. Da ich jetzt nicht mehr dem Einfluss des liebreizenden Lächelns unterworfen war, konnte ich es riskieren, stinkwütend zu werden. Zum Beispiel auf mich selber, weil ich es immer noch zulasse, dass meine sprichwörtliche Gutmütigkeit so ausgenutzt wird. Dann aber auch auf meine Frau, die genau weiß, an welcher Saite sie zupfen muss, um das immer wieder zu schaffen.

Und beim Einkaufen an alles denkt, nur nicht an ihre Zigaretten. Aber warum auch? Dafür hat sie ja mich! Dann auf die Zigarettenindustrie, die mit ihrer Profitgier ganze Völker zugrunde richtet, und natürlich auf die Regierung, die dem mit der gleichen Profitgier Vorschub leistet. Jedenfalls aber auf den Schwachkopf, der den Automaten so weit von unserer Wohnung, immerhin fast 200 Meter entfernt aufgestellt hatte. Völlig am Markt vorbei. Ganz zu schweigen von meiner Schwiegermutter, die es nicht fertiggebracht hat, ihr verzogenes Gör von der üblen Angewohnheit des Rauchens abzuhalten. Wundern musste ich mich auch über mich selber, denn immerhin war aus einem sanften Lamm (vor dem Zigaretten-Angriff) ein reißender Löwe (nach dem Angriff) geworden, der mit triefend nassem Fell die restlichen fünfzig Meter zu überwinden gedachte. 

Kurz vor dem Ziel schob sich rechts auf der Straße eine größere dunkle Limousine heran, gesteuert von einem älteren Herrn im Wintermantel. Er schaute mich an, und bremste sein Fahrzeug ab. Der kam mir gerade recht. Sicher ein verstörter Großstädter, der sich verfahren hatte, und jetzt eine Einweisung zur nächsten Autobahn-Auffahrt sucht. Sehe ich aus wie ein Fremdenführer? War es meine Schuld, wenn dieser Hohlkopf nicht in der Lage war, eine Straßenkarte richtig zu lesen? Was hatte er auch zu nachtschlafender Zeit, abends um 19:00 Uhr auf fremden Straßen zu suchen? Und dann noch wildfremde Menschen im strömenden Regen dumm anquatschen. Sollte er doch zusehen, wie er weiterkam. Schon blieb er stehen, lächelte dümmlich und ließ mit einem leisen Surren sein Fenster herab.

Also stell schon Deine infantile Frage, Du Kretin, damit ich Dir mit verachtender Stimme klarmachen kann, dass vor Deinen Augen, keine zehn Meter entfernt ein riesiges Hinweisschild aufgebaut ist. Extra groß für verstörte Idioten.

Er stellte seine Frage:

„Sie sind ja pitschnass, Sie armer Kerl. Kann ich Sie irgendwo hin mitnehmen?“

Ich hatte es ja gleich gewusst. Er war ein Philanthrop, ein Menschenfreund, der es sogar zugelassen hätte, dass seine teuren Polstersitze nass werden. Schön, dass es noch solche Menschen gibt.

Aber es ist auch schön, dass ich trotz fortgeschrittenen Alters immer noch in der Lage bin, genau zu erkennen, wann mir das Leben, dieses herrliche, bunte, vielschichtige Leben eine Ohrfeige verpasst.

© 2004 Erwin Grab