Der letzte Satz
Man kann die Klimakatastrophe natürlich wegdiskutieren. Denn die gibt es ja genauso wenig, wie den berühmten Stöpsel in einem Schiff.
Die Seefahrt. Das ist der Geruch von Abenteuer, Teer, schwitzenden Männermuskeln und rauhen Seemannsliedern. Manchmal riecht es auch nach Rum, abgestandenem Wasser und verfaultem Hering. So lesen wir es jedenfalls bei Claus Störtebekker und hören fast das Klirren von Säbeln und das Donnern alter Schiffskanonen.
Ist es da nicht verständlich, dass es die Menschen auf die Clubschiffe treibt? Das sich das Verständnis für Abenteuer etwas gewandelt hat, ist dabei nicht so wichtig, denn es geht nach wie vor um Eroberungen. Sei es das Bett in einer fremden Kabine, der beste Tisch neben dem Mittagsbuffet oder der Liegestuhl auf dem Sonnendeck, Seefahrt ist und bleibt Abenteuer.
Natürlich gehören haarsträubende Geschichten über Seeungeheuer, Monsterwellen, Riesenkraken und die schwarze Riesenhand dazu und werden gerne – gegen Zahlung eines entsprechenden Trinkgeldes – von der Besatzung zum Besten gegeben. Da ist auch noch die Geschichte von dem Stöpsel, der angeblich unten im Rumpf eines jeden Schiffes angebracht ist, um das Schiff notfalls fluten zu können. Dieser Stöpsel ist ähnlich geformt wie ein Badewannenstöpsel – vielleicht etwas größer – und hat die gleiche Aufgabe wie dieser, nur umgekehrt.
Warum ein Schiff notfalls geflutet werden soll, ist noch nicht logisch erklärt worden (vielleicht, um einen Brand zu löschen?), aber angeblich sollen vor jeder Fahrt Wetten über horrende Summen abgeschlossen werden, ob irgend jemand diesen Stöpsel nicht nur findet, sondern ihn auch noch herauszieht, was unweigerlich das Sinken des Schiffes zu Folge habe.
Der Kapitän der Lustifania hatte sich gerade zur wohlverdienten Ruhe begeben, als ein Leichtmatrose mit hochrotem Kopf auf die Brücke stürmte und den ersten Offizier zu sprechen verlangte. Sichtlich erregt und nach Luft schnappend stammelte er die folgenschweren Worte:
„Es ist passiert, sie haben ihn gefunden!“
„Was ist passiert und wer hat was gefunden?“, herrschte ihn der wachhabende Offizier an.
„Den Stöpsel! Sie haben den Stöpsel gefunden!“
„Beherrschen sie sich, sie Kerl. Was für einen vermaledeiten Stöpsel?“
„Na, sie wissen doch: DEN Stöpsel!“
Hilfe suchend wandte sich der Offizier an den Steuermann, der ziemlich schäbig grinste.
„Der Kerl hat zu viel getrunken oder vom Klabautermann geträumt. Soll ich ihn rausschmeißen?“
„Später. Erst machen wir mal einen Vermerk im Logbuch; streng nach Vorschrift. Dann geben sie dem Typen einen Kaffee und er soll den Schwachsinn noch mal erzählen.“
„Ich will keinen Kaffee!“, schrie der um sein Leben fürchtende Matrose.
„Tut doch was! Das Schiff läuft voll Wasser und wir werden alle ersaufen!“
„Nicht zu fassen, was für Leute man heute auf ein Schiff lässt!“, konnte der 1. Offizier noch bemerken, als er von einem hochfrequenten, fast schon schmerzhaften Pfeifen unterbrochen wurde.
„Wer hat da Alarm ausgelöst?“
„Angeblich Wasser im Maschinenraum. Das soll jemand den Stöpsel rausgezogen haben.“, unterrichtete ihn der Steuermann nach einem entsprechenden Telefongespräch.
„Haben wir es nur noch mit Wahnsinnigen zu tun? Wie kann man etwas herausziehen, was es gar nicht gibt?“
„Keine Ahnung, aber das Wasser ist da.“
„Wenn es keinen Stöpsel gibt, gibt es auch kein Wasser. Basta!“
„Sollen wir den Kapitän wecken?“
„Meinetwegen. Sicher ist sicher.“
„Sie wagen es, mich wegen eines spätpubertierenden seekranken Matrosen zu wecken?“, herrschte der aus sanftem Schlummer gerissene Schiffsführer den Steuermann an.
„Aber wir haben Wasser im Schiff!“
„Und was ist der Grund dafür?“
„Jemand soll den Stöpsel gezogen haben.“
„Welchen Stöpsel?“
„Na, DEN Stöpsel.“
„DEN Stöpsel?“
„Genau.“
„Aber den gibt es doch gar nicht!“
„Weiß ich. Aber jemand hat ihn raus gezogen.“
„Und jetzt?“
„Läuft das Schiff voll Wasser. Wir haben schon Schlagseite.“
„Schwachsinn!“
„Schauen sie auf ihr Whiskyglas. Der Whisky steht schon ganz schräg.“
„Das ist kein Whisky sondern Tee.“
„Der steht auch schräg.“
„Tatsächlich. Ich kann doch von dem kleinen Schluck nicht betrunken sein.“
„Ist ja auch nur Tee.“
„Werden sie nicht sarkastisch. Sagen sie mir lieber, wer das verbockt hat.“
„Was verbockt hat?“
„Na, den Stöpsel gezogen.“
„Keine Ahnung. Sollten wir nicht lieber das Loch zustopfen?“
„Wer hat denn hier die Verantwortung? Ich kann doch nicht ins Logbuch schreiben, dass wir ein Loch verstopft haben, ohne zu wissen, wer einen Stöpsel gezogen hat, den es gar nicht gibt. Was sagt denn dann die Versicherung? Lassen sie sofort die Mannschaft und dann die Passagiere verhören. Ich verlange lückenlose Aufklärung.“
„Und das Wasser im Schiff?“
„Eben. Wenn wir den Terroristen kennen, werden wir ihn voll verantwortlich machen.“
„Wir werden vorher absaufen.“
„Haben sie schon einmal gehört, dass ein Schiff gesunken ist, weil man den Stöpsel gezogen hat?“
„Es war mir bisher nicht einmal bekannt, dass es diesen Stöpsel überhaupt gibt.“
„Da haben sie es. Es kann uns also nichts passieren.“
„Und wenn es ihn doch gibt?“
„Was, den Stöpsel?“
„Genau.“
„Nun, dann haben wir alle etwas Wichtiges aus der Geschichte gelernt, nicht wahr?“
„Und was?“
„Das an alten Geschichten manchmal doch etwas dran ist. Und jetzt machen sie mir eine Verbindung mit der Reederei!“
„Und was ist mit dem Loch?“
„Erst die Reederei. Die sollen mir sagen, ob vielleicht doch so ein Idiot ein Schiff mit seiner Badewanne verwechselt hat.“
„Na gut. Ziehen sie lieber Gummistiefel an. Es könnte im Gang schon etwas feucht sein.“
Sechzig Minuten später war die Lustifania mit allen Passagieren und der kompletten Mannschaft in den Fluten des Meeres verschwunden. In einem Rettungsfloß fand man nur das Logbuch, in dem der Kapitän zwar keine Rettungsmaßnahmen schilderte, dafür aber peinlich genau seine Ermittlungen um den Stöpsel beschrieb. Der letzte Satz lautete:
„Abschließend bleibt nur festzustellen, dass es diesen Stöpsel gibt.“
Jahre später, nein viele Jahre später, oder um genau zu sein 20 Millionen Jahre später suchte ein junger Neu-Neandertaler (zweite Auflage) leicht brennbares Material, denn er hatte sich vorgenommen, das Feuer zu erfinden; genau gesagt: die Beherrschung des Feuers. In einem wüsten Steinhaufen fand er bestens verpackt in angeblich leicht verrottbarem Kunststoff – so der Aufdruck, den der Primitivling natürlich nicht entziffern konnte – viele sauber gefaltete Blätter aus einem Material, das wir als Zeitungspapier bezeichnen würden. Hätte dieser Kretin diese Blätter einfach ignoriert, statt sie zu verbrennen, würden noch einmal 20.000 Jahre später unsere Nachfolger (wohlgemerkt: die zweite Auflag) die Meldung über einen so genannten G8-Gipfel entziffern können. Der letzte Absatz lautete:
„Die Teilnehmer konnten sich auf keine Maßnahmen zur Abwehr der Klimakatastrophe einigen, da – so die chinesische Delegation – die Schuldfrage noch nicht eindeutig geklärt sei. Die US-amerikanische Delegation erklärte die Unvereinbarkeit der Vorschläge mit dem Freiheitsgedanken der amerikanischen Bürger und verwies auf die hohen Kosten, die dem Land durch die New-Orleans-Katastrophe entstanden seien. Erfreulich ist jedoch, dass im Schlussprotokoll der Verhandlungen einmütig die Erkenntnis bestätigt wurde, dass es ein Problem gibt.“
Schade nur, dass die Natur keine Bulletins herausgibt. Der letzte Satz würde auch immer gleich lauten:
„Ich habe viel Zeit!“
© 2007 Erwin Grab